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Erinnerungen an Heiligabend im Jahr 1946

Von Manfred Rademacher

Allein unterwegs. Eine Nachtfahrt im Rheinland. Wenige Tage vor Heiligabend. Mollig warm in meinen Auto. Der WDR 4-Sender spielt Weihnachtslieder. Leise singe ich dazu. Erstaunlich, der Text sitzt noch immer. Es ist eine besinnliche Zeit. Ich erinnere mich an meine Kindheit in Schlesien, an meine Kinder- und Jugendzeit in Achmer bei Bramsche, 16 Kilometer von Osnabrück entfernt. Ein kleines Kuhdorf, in dem 1946 einige Schlesier, Ostpreußen und aus Pommern stammende Vertriebene ein neues Zuhause finden sollten. Jedoch nie eine Heimat. Von den Einheimischen als Zigeuner, Klauer, Polacken und Russen beschimpft, als Aussätzige behandelt, sollten wir uns da wohlfühlen? Es war keine schöne Zeit in dieser von den Einheimischen beherrschten Ortschaft, wo sich die Füchse, Marder, Rehe und Wildschweine gute Nacht sagten.

Ein Zimmer für vier Personen in einem kleinen Bauernhof am Waldrand, inmitten einer Wildnis von Feldern und ausgefahrenen Wegen war unsere Herberge. Wo sich die Füchse so manches Huhn vom Bauernhof holten und unsere Familie dann des Diebstahls bezichtigt wurden. Für meine Eltern und uns Kinder der Weltuntergang, wenn man aus der Großstadt Breslau kommt. Unser erster Heiligabend in unserem neuen Zuhause, was keines war, stand an. Im naheliegenden Wald wurde ein kleines Tannenbäumchen mit einem scharfen Küchenmesser von meinem Vater, mit Erlaubnis des ansonsten geizigen Bauern, mühevoll abgeschnitten. Der Baum durfte nicht groß sein, denn in unserem Dielenzimmer, neben dem Kuhstall, von knapp 18 Quadratmetern, indem geschlafen, gekocht und gewohnt werden musste, war wenig Platz.

Aus Zigaretten-Silberpapier, das wir auf den Straßen gesammelt hatten, schnitten meine Schwester und ich dünne Streifen, die das teure Lametta ersetzten. Silberne Sterne, ebenfalls von uns selbst gefertigt, zierten das kleine Bäumchen, das angenehm und intensiv den Tannenduft versprühte. Und an der Spitze prangte ein großer selbst gebastelter Silberstern. Ein Kunstwerk von Vatern. Echte Wachskerzen, nur wenige, wurden dazu auf die Zweige gesetzt. Und nicht zu vergessen, die von Muttern gebackenen Pfefferkuchensterne an die Zweige gehängt.

Am Heiligabend, wir Kinder konnten kaum die Bescherung abwarten, war zuallererst das Abendessen angesagt. Die Spannung stieg bei uns Kindern. Die in Schlesien knusprige Weihnachtsgans wurde vom Bauern großzügigerweise, vielleicht weil Weihnachten war, durch ein Huhn ersetzt, das von meiner Mutter genussvoll, knusprig in der Pfanne gebraten, auf dem Teller lag. Dazu ein paar Kartoffeln, etwas Bratensoße. Die im Sommer vom Baum gepflückten Kirschen (O-Ton Papa Bruno: "Der liebe Gott lässt es für alle wachsen!"), von Muttern eingemacht, gab es als Nachtisch.

Nach dem Essen wurden meine Schwester und ich vor die Zimmertür geschickt, in den Kuhstall, damit das Christkind in aller Ruhe durchs Fenster kommen konnte, um die Geschenke unter den Baum zu legen. Und dann ertönte ein kleines Glöckchen, das Muttern auf dem Fluchtweg bei sich trug, die große Bescherung, die eigentlich recht bescheiden ausfiel. Die einfachen Präsente erfreuten uns dennoch. Für meine Schwester lagen ein selbst gestrickter Schal, ein paar selbst gestrickte Fingerhandschuhe und ein Buch unterm Tannenbaum. Das Gestrickte war aus roter Wolle. Für mich hatte das Christkind eine buntgestrickte Pudelmütze, auch ein paar gestrickte Handschuhe sowie ein Malbuch unter das kleine Bäumchen gelegt. Für die Stricksachen hat meine Mama, wie wir später erfahren haben, zwei ihrer handgestrickten Pullover geopfert. Der von mir gewünschte Fußball aus Leder war nicht dabei. Dafür aber in Handballgröße ein roter Stoffball, liebevoll, gekonnt von Muttern handgenäht, prallgefüllt mit Stoffresten, die wir Jungs als “Pille“ bezeichneten. Zum Bolzen einfach große Klasse. Damit konnte man keine Fensterscheiben einschießen und sich auch nicht verletzen, bestenfalls im Zweikampf, wenn man neben die Pille trat. Auch beim Kopfball bekam meine Kopfschmerzen. Unser Papa bekam ein großes Päckchen Tabak und eine nagelneue Meerschaumpfeife. Die von ihm gewünschten Zigarren, wie wir später hörten, blieben aus. Dennoch strahlte er. Unsere Mama Pauline hatte sich selber ein paar Fingerhandschuhe gestrickt und dazu einen dicken Schal, beides brauche sie für ihre Fahrradtouren, zum Einkaufen in Bramsche, sagte sie. Wir Kinder haben zwei kunstvolle Weihnachtsbilder auf braunen Papier für unsere Eltern gemalt. Natürlich mit Buntstiften.

Zu den Höhepunkten am Heiligabend gehörte zweifelsohne das Singen von Weihnachtsliedern. Muttern oder Muttel, wie wir Schlesier unsere sorgende Mama ansprachen, stimmte zuallererst das Lied „Stille Nacht, heilige Nacht …“ an. Unserer Muttel liefen die Tränen und Papa bekam auch feuchte Augen. Es war richtig feierlich. Sicherlich dachten unsere Eltern an die schöne Zeit vor dem Krieg, an den Heiligabend, an die Weihnachtstage im schönen Breslau, an ihre Heimat, die für Muttel und Papa immer das richtige Zuhause bis an ihr Lebensende geblieben ist.

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